Auf nach Indien und wieder zurück – Tim und Irène erzählen

Wurzeln sind wichtig im Leben eines Menschen, aber wir Menschen haben Beine, keine Wurzeln, und Beine sind dafür gemacht, woanders hinzugehen.

Pino Cacucci

Ich freue mich riesig, dass Tim bereit ist, sich auf ein gemeinsames Schreibprojekt mit mir einzulassen. Herzlichen Dank nochmals!

Auch er hat einige Jahre in Indien gelebt und viel Gemeinsames verbindet uns. Nun ist daraus ein erster gemeinsamer Blogartikel entstanden, und wir haben so viele Ideen, dass es wohl weitere Teile von Tim und Irène geben wird.

Doch jetzt lasse ich Tim zu Wort kommen:

Indien 1984

„Welcome to New Delhi“, spricht der Kapitän über Mikrofon. In wenigen Minuten wird eine junge deutsche Familie zum ersten Mal indischen Boden betreten.

Sie haben noch keinen blassen Schimmer, was sie dort in den nächsten Jahren erwartet. Neben Beruf und Schule werden es intensive Eindrücke sein. Farben, Gerüche, Küche, Flora, Fauna.

Aber neben all der Exotik wird es auch Schattenseiten geben. Konflikte im Land, Attentate, Unruhen, Ausgangssperren, Bewegungseinschränkungen, Hitze, Stromausfälle. Und nur wenige Heimreisen.

Indien 1987

Die Familie verließ den indischen Subkontinent in Richtung Heimat. Ein Neuanfang wartete dort auf sie, in vielfältiger Hinsicht. Das Kapitel Indien war damit abgeschlossen, sehr zweifelhaft, ob es je ein Zurück geben würde. Ein paar Holz-Elefanten und Messing-Kannen schmückten fortan das heimische Wohnzimmer und manchmal wurden die Fotos hervorgeholt. Mehr ging aber nicht.

In den 1990-er Jahren öffnete sich die Welt und über das neue Internet konnte ich einen schüchternen Blick nach Indien werfen. Aber für eine Reise dorthin fehlte das Budget.

Anfang der 2000-er Jahre wurden mir Fernreisen möglich. An Indien aber, traute ich mich nicht heran. Ich hatte Angst, mir meine Kindheitserinnerungen zu zerstören.

Aber es zog innerlich an mir. 2008 wagte ich es dann doch. Ein Kurztrip nach Bombay sollte als Test-Ballon dienen. Die Reise war gebucht, aber dann rannten dort Terroristen durch Luxus-Hotels und schossen auf Ausländer. Wir sagten die Reise ab.

Es brauchte einen weinseligen Abend in 2014, als ich einem Freund meinen innersten Wunsch nach Rückkehr eröffnete. Deal! 2015 landeten wird beide in Indien. Nach knapp 30 Jahren war ich also wieder da und suchte Orte der Erinnerung auf. Und auch mein Brief-Patenkind P., eine Erfahrung, die ich nie vergessen werde.

Damit war nun der Bann gebrochen.

Ich wurde mutiger. In 2017 und 2018 verschaffte ich mir Dienstreisen nach Bengaluru und Mumbai.

In 2019 kehrte ich dann mit meiner eigenen kleinen Familie zurück. Wir besuchten Delhi, Agra und Goa und auch wieder ein Patenkind. Diesmal die jüngere Schwester von P..

Kurz davor, bin ich auf Irènes Blog gestoßen. Wenn sie von ihrem Alltag schrieb, kam mir Vieles so vertraut vor, aber unsere beiden Geschichten unterscheiden sich dann doch. Lebten wir damals in unserer Expat-Blase, hat sie sich entschieden, dauerhaft in Indien zu leben. Mit all den Konsequenzen. Spürt sie auch manchmal so eine Sehnsucht? Nur andersherum? Oder hat sie ihren Ort gefunden? Gibt es ein Fernweh, wenn man in Indien lebt?


Lieber Tim

Danke fürs Teilen deiner Indienerlebnisse. Ich finde deine Sicht auf Indien sehr spannend, da du das Leben hier als Kind erfahren und erleben durftest. Die Jahre in Indien scheinen dich nachhaltig geprägt zu haben, denn eine Sehnsucht schlummerte in dir. Ich kann verstehen, dass du als Erwachsener nur zögerlich den Schritt gewagt hast, Indien wieder zu betreten. Die Schätze der Kindheit möchte man sich bewahren.

Wie muss sich Indien in fast 30 Jahren verändert haben! Wenn mein Mann aus seiner Kindheit erzählt, kann ich mir das kaum vorstellen. Ein Chennai ohne Verkehr und ohne die vielen Häuser. Das hätte ich gerne gesehen. „Hier war früher alles ein riesiger See und hier waren alles Reisfelder“, höre ich ihn immer wieder sagen. So viele Seen wurden unüberlegt trocken gelegt, um Platz für die schnell wachsende Metropole zu schaffen. Dass dies in der Zukunft zu großen Problemen (Überschwemmungen und Wasserknappheit) führen würde, hatte damals niemand bedacht.

Mein Weg nach Indien ist ein anderer. Er begann selbst gewählt als Erwachsene.

Im Februar 2006 hieß es für unsere kleine Familie „Welcome to Chennai!“ Für meinen Mann war es nichts Besonderes, in seiner Heimatstadt anzukommen. Für mich jedoch war es ein grosser, abenteuerlicher, ungewisser Schritt. Während unser kleiner Sohn den Wechsel in die neue Welt seines Vaters spielend schaffte, brauchte ich viel länger, um anzukommen, um mich wohlzufühlen. Das Leben war aufregend, aber auch anstrengend und nervenaufreibend. Mein Mann arbeitete viel und war oft nicht zu Hause. Ich fühlte mich zunehmend einsam und vermisste meine alte Heimat. Nach Besuchen in der Schweiz fiel es mir immer schwer, nach Indien zurückzukehren.

Die Spielgruppen und Vorschulen, die wir in Chennai besichtigten, konnten meinen Ansprüchen nie genügen. Ich fand das indische Schulwesen nur schrecklich und wollte unseren Sohn diesem nicht aussetzen. Das frühe Lesen und Schreiben lernen und der Fokus auf akademische Fächer empfinde ich noch heute unsinnig, nicht kindgerecht. Selber Lehrerin und Heilpädagogin zu sein, war da definitiv nicht vorteilhaft. Ich musste wohl oder übel Kompromisse eingehen. Als es langsam um die Einschulung ging, hatte ich genug von Indien. Ich hatte buchstäblich die Nase voll, und ich merkte, dass ich in die Schweiz zurückwollte.

Im Herbst 2009 verließ ich mit unserem Sohn und unserem Hund Indien. Mein Mann ließ uns schweren Herzens ziehen. Er zeigte viel Verständnis, war jedoch nicht bereit, sein Geschäft aufzugeben und in die Schweiz zurückzukehren. So begannen wir eine Fernbeziehung. Er pendelte oft zwischen den zwei Welten hin und her.

In der Schweiz begann ich wieder zu arbeiten und unser Sohn besuchte den Kindergarten. Beruflich musste ich mich als Heilpädagogin neu mit der integrativen Förderung auseinandersetzen. Durch meine Entscheidung wurde ich zu einer alleinerziehenden, berufstätigen Mutter. Mein Mann stimmte seine Besuche auf unsere Ferien ab, sodass wir die gemeinsame Zeit voll genießen konnten. Es war stressig. Das schweizerische Schulsystem, das ich in Indien so hoch gelobt hatte, zeigte sich für unseren Sohn von einer anderen Seite. Viele unglückliche Umstände führten dazu, dass das erste Schuljahr für uns immer belastender wurde. Zunehmend machten wir uns Sorgen. Wir merkten als Paar und Familie, dass es so nicht weitergehen kann. Lange Gespräche und Diskussionen folgten. Irgendwann fiel die Entscheidung: Es geht zurück nach Indien!

Im Sommer 2012 hieß es erneut „Welcome to Chennai!“ Im Unterschied zu 2006 fiel diese Entscheidung viel überlegter und ich wusste ungefähr, worauf ich mich einließ. Dieses Mal gelang die Auswanderung. Wir hatten das Glück, eine gute Schule für unseren Sohn zu finden. Ich lernte einige nette Mütter kennen, die ähnliche Ansichten teilten und langsam zu Freundinnen wurden. Ich fühlte mich immer mehr zu Hause.

Sehnsucht nach der Schweiz habe ich heute kaum noch. Manchmal träume ich von einem Stück rezenten Greyerzer Käse, einem Raclette oder einem Spaziergang im schönen Auenwald! Inzwischen kann man in Chennai fast alle kulinarischen Genüsse stillen. Importwaren haben zwar stolze Preise, aber ab und zu gönnt man sich etwas.

Durch WhatsApp, Facebook und Mail ist es bedeutend einfacher geworden, mit der Familie und Freunden im Kontakt zu bleiben. So hält sich mein Heimweh in Grenzen. Manchmal überkommen mich an Weihnachten oder Ostern nostalgische Gefühle, aber eine Rückkehr in die Schweiz kann ich mir im Moment nicht vorstellen.

Und du? Planst du eine neue Reise nach Indien, wenn es das Coronavirus es endlich wieder zu lässt?

Herzliche Grüße

Irène

6 Antworten

  1. Liebe Irene,

    es ist spannend, hinter deine Kulissen zu blicken. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie das war, alles zu verlassen und nach Indien, auf einen anderen Kontinent, zu gehen. Ich weiß noch damals, als meine Mutter nach Deutschland auswandern wollte. Wie viele schlaflose Nächte sie da durchlebt hat. Vor allem wegen mir. Sie hat viel und lange mit mir darüber gesprochen und ich habe sie ermutigt, diesen Schritt zu gehen – ich weiß heute selbst nicht, wieso. Ich war damals elf. Vielleicht war es schon da die Neugier auf die Welt, die mir ins Ohr flüsterte.

    Ich habe das Auswandern mit meinen elf Jahren unterschätzt und das, was auf mich zukommt. Die ersten zwei- bis drei Jahre waren richtig schlimm. Dann, langsam und stetig, lebte ich mich ein. Das ist jetzt über fünfundzwanzig Jahre her.

    Es ist gut, dass sich euer Sohn so schnell und gut eingewöhnt hat. Vielleicht fällt es leichter, je jünger man ist. Und auch bei dir scheint es jetzt kein Thema mehr zu sein. Das ist schön. Ich bin schon auf weitere Berichte gespannt…

    Liebe Grüße
    Kasia

  2. Liebe Irene
    ich bin vor einer Weile auf deinen Blog gestossen und lese seitdem zwischendurch rein.
    Ich finde deine Beiträge sehr spannend und bewundere dich. Mein Mann kommt von Hyderabad, wir leben in der Schweiz. Ich mag vieles an Indien und vieles nicht… ich kann mir eigentlich nicht vorstellen dauerhaft in Indien zu leben. In letzter Zeit hat mein Mann öfters angesprochen, zurück zu wollen. Das bringt mich dazu, mich mehr mit dem Gedanken auseinanderzusetzten.
    Danke für deine Einblicke und das Teilen dieser persönlichen Eindrücke und Geschichten!

    1. Liebe Ursina
      Schön, dass du meinen Blog gefunden hast und nun zu meinen Leserinnen zählst. Mein Mann war damals auch zunehmend unzufriedener in der Schweiz. Das Leben in Indien hat Vor- und Nachteile, da eine Entscheidung zu treffen, die für alle stimmt, ist schwierig. Nimm dir dafür Zeit. Wünsche euch alles Gute! Du kannst mich gerne privat anschreiben, falls du Fragen hast. Liebe Grüße aus Südindien Irène

  3. Hallo liebe Irene,
    Ich finde deine Geschichte super spannend und lese alle deine Blog Einträge. Mein Freund lebt in Indien, wir haben uns über das Internet vor 5 Jahren kennengelernt, und durch sein Studium, sind wir auch am hin in her überlegen, wo wir letztendlich wohnen werden. Ich bin schon offen nach Indien zu ziehen, aber wahrscheinlich doch nur für paar Jahre, noch kann ich es mir nicht vorstellen in Indien Kinder groß zu ziehen. Finde es daher echt schön das aus eurer Perspektive zu sehen. Jetzt im Sommer wird es hoffentlich klappen das er rüber kommt, und ich dafür im Winter. Wir beten das Corona uns nicht schon wieder ein Strich durch die Rechnung macht.

    Liebe Grüße aus Deutschland
    Ines

    1. Liebe Ines
      Danke für deine Nachricht. Da hat euch Corona lange getrennt! Hoffentlich klappt euer Wiedersehen bald. Mich beunruhigen die nun vielerorts steigenden Fallzahlen in Indien sehr und hoffe wirklich, dass uns keine 2. Welle überrollt. Euch beiden alles Gute und Liebe.
      Viele Grüße aus Südindien Irène

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