Wenn man in Südindien lebt, begegnet man früher oder später einem Gott, von dem man in Europa vielleicht noch nie gehört hat: Ayyappan, auch Manikandan genannt. Er wird meist als junger Mann dargestellt, der auf einem bengalischen Tiger reitet oder neben ihm steht und Pfeil und Bogen hält. In manchen Darstellungen reitet er mit einem Schwert auf einem indischen Elefanten oder einem Pferd. Andere Bilder zeigen ihn oft in einer meditativen Yoga-Position, mit einem ruhigen Gesichtsausdruck.

Besonders auffällig wird es in den Wintermonaten: Wer im November, Dezember oder Januar in Südindien unterwegs ist, begegnet vielen schwarzgekleideten Männern – Pilger auf dem Weg nach Sabarimala.
Ein Gott mit ungewöhnlicher Herkunft
Die Geschichte von Ayyappan ist tief in der südindischen Mythologie verwurzelt – und ziemlich ungewöhnlich. Er gilt als Sohn von Shiva und Vishnu – letzterer in weiblicher Gestalt, nämlich Mohini. Ja, richtig gelesen: Vishnu nahm einst eine weibliche Form an, um die Dämonen (Asuras) zu überlisten. Aus dieser Verbindung entstand Ayyappan – ein Gott, der Harmonie, Disziplin und spirituelle Stärke verkörpert.
Ayyappan schlägt somit eine Brücke zwischen dem Shivaismus und dem Vishnuismus und wird sowohl von Shiva- als auch von Vishnu-Anhängern verehrt. Das macht ihn in der indischen Götterwelt einzigartig. Er steht symbolisch für die Einheit zweier spiritueller Strömungen, die oft getrennt betrachtet werden.
Schon als Kind soll er klug, mutig und voller Mitgefühl gewesen sein. Eine der bekanntesten Geschichten erzählt, wie er den Dämon Mahishi besiegte, der die Welt ins Chaos stürzen wollte. In einer anderen Legende reitet Ayyappan auf einem Tiger, um ein Heilmittel für seine Adoptivmutter zu holen – ein Bild, das bis heute als Symbol für Mut, Entschlossenheit und Mitgefühl gilt.
Sabarimala – eine der größten Pilgerreisen der Welt
Die Verehrung von Ayyappan kulminiert in einer gewaltigen Pilgerreise: Jedes Jahr im Dezember und Januar pilgern Millionen von Männern, aber zunehmend auch Frauen, in die Berge von Kerala, zum Sabarimala-Tempel. Der Tempel liegt tief im Dschungel der Western Ghats, umgeben von dichter Natur, weit entfernt von Lärm, Verkehr und Alltag. Allein schon der Weg dorthin ist eine Erfahrung für sich.
Vor der eigentlichen Pilgerreise bereiten sich die Devotees 41 Tage lang auf die spirituelle Reise vor. Diese Zeit nennt sich Vratham. In dieser Phase verzichten sie auf Fleisch, Alkohol, Rauchen, Sex und andere weltliche Genüsse. Sie kleiden sich in Schwarz oder Dunkelblau, gehen barfuß und nennen sich gegenseitig „Swami“ – als Zeichen, dass alle gleich sind, unabhängig von sozialem Status, Beruf oder Herkunft.
Als Opfergabe für Ayyappan tragen die Pilger das sogenannte Irumudi, einen kleinen Beutel, auf dem Kopf. Er ist zweigeteilt: eine Seite für persönliche Bedürfnisse, die andere für Opfergaben. Nur wer das Vratham, die 41-tägige Fastenzeit, durchlaufen hat, darf ein Irumudi tragen und den letzten Aufstieg zum Tempel antreten – ein äußeres Zeichen innerer Vorbereitung.

Moderne Fragen an alte Traditionen
Natürlich bleibt auch Ayyappan nicht von gesellschaftlichen Debatten verschont. Eine der größten Kontroversen betrifft den Zugang von Frauen im gebärfähigen Alter – traditionell zwischen 10 und 50 Jahren. Der Grund: Ayyappan wird als ewiger Brahmachari, also als zölibatär lebender Gott verehrt. Aus Respekt vor seiner spirituellen Reinheit war Frauen dieser Altersgruppe der Zugang lange Zeit verwehrt.
2018 erklärte der Oberste Gerichtshof Indiens dieses Verbot für verfassungswidrig. Seither dürfen offiziell Frauen jeden Alters den Tempel betreten. Die Reaktionen auf den Gerichtsentscheid waren heftig und es kam zu großen Demonstrationen. Viele sahen darin einen Fortschritt, andere einen Tabubruch. Die Realität ist: Auch heute meiden viele Frauen den Aufstieg – nicht aus Mangel an Mut, sondern aus Sorge vor Ablehnung. Denn viele Gläubige sind weiterhin strikt gegen weibliche Besucherinnen im Tempel und lassen dies Frauen im gebärfähigen Alter spüren.
Ich persönlich befürworte die Öffnung. Religion ist für mich etwas Lebendiges, das sich mit der Gesellschaft entwickeln darf und sollte. Der Glaube an Disziplin, Mitgefühl und Gleichheit sollte sich nicht an biologischen Grenzen aufhängen.
Kennst du Ayyappan oder warst du vielleicht sogar schon in Sabarimala?
Ich freue mich über deine Gedanken oder Erfahrungen in den Kommentaren.