„Amma, Money please“, spricht mich die alte Frau mit den verfilzten Haaren am Strand an und führt ihre rechte Hand zum Mund, um anzudeuten, dass sie hungrig ist.
An der roten Ampel klopft eine junge Mutter in Lumpen gehüllt und einem süßen Baby auf dem Arm an die Autoscheibe und faltet bittend die Hände.
Vor einem Restaurant fragen mich zwei Frauen in bunten Saris um Geld. Irritiert schaue ich genauer hin und merke, dass es Transsexuelle sind, die in Indien oft Hijra genannt werden.
Mit bunten Stickerheften in den kleinen Händen schaut mich ein 6-jähriger Junge mit traurigen großen Augen an. „Aunty, please buy!“
Nachdem ich den Tempel verlasse habe, fixieren mich viele Bettler mit erwartungsvollen Blicken. In langen Reihen sitzen sie da und jeder streckt mir bittend die Hände entgegen.
Ich bin in einer Autoriksha unterwegs und ein junger Mann ohne Beine schiebt sich auf einem kleinen Rollbrett auf mich zu.
Jemand zupft an meiner Kurta. Ein etwa 9-jähriges Mädchen in einem schäbigen Kleid mit einem Kleinkind auf dem Arm streckt mir bittend und aufdringlich die offene Hand hin.
Vor dem Tempel in Tiruvannamalai fragen mich zwei Sadhus, Bettelmönche um Geld.
Wie soll man da reagieren? Soll man etwas geben oder einfach ignorieren und weitergehen?
Reist man durch Indien, wird man immer wieder mit solchen Situationen konfrontiert. Man weiß, dass es in Indien große Armut und Bettler gibt. Die meisten Reisenden haben sich auf dieses Land vorbereitet und im Reiseführer darüber gelesen. Doch wenn die Bettler dann wirklich vor einem stehen und mit traurigen Augen um Geld bitten, ist es eben ganz anderes. Man ist persönlich betroffen, man ist gezwungen zu reagieren, man ist plötzlich, ohne es zu wollen, irgendwie in die Armut involviert. Der berühmte Kulturschock, der in jedem Reiseführer erwähnt wird, überrollt viele und lässt erst mal hilflos erstarren.
Ich lebe nun seit über fünfzehn Jahren in diesem Land und muss gestehen, dass ich immer noch Mühe habe, solche Bilder zu ertragen. Doch in den Jahren musste ich gezwungenermaßen lernen, damit umzugehen.
Betteln ist in Indien ein grosses Geschäft. Oft werden Menschen, vor allem Kinder dazu gezwungen. Skrupellose Mafiosi ziehen im Hintergrund oftmals die Fäden und verdienen damit viel Geld. Für gute Standplätze an Ampeln müssen Bettler häufig Gebühren abliefern und viele sind den grausamen Halunken hilflos ausgeliefert.
Es gibt so viele schreckliche Geschichten! Babys, die mit Alkohol schläfrig gemacht und vermietet werden, damit am Ende des Tages mehr Umsatz generiert wird. Kinder, die absichtlich verstümmelt werden, um mehr Mitleid zu erregen. Betrüger, die den Unterschenkel an den Oberschenkel binden, damit es aussieht, als ob sie amputiert wären. Es gibt nichts, was es in diesem Land nicht gibt.
Ich kann hier kein Rezept liefern, wie man mit solchen Situationen umgehen soll. Ich kann nur aus meiner eigenen Erfahrung berichten, wie ich dies handhabe.
Bettelnde Kinder oder Kinder, die etwas verkaufen
Natürlich berührt der Anblick von bettelnden und armen Kindern besonders. Doch hier bleibe ich ganz klar und entschlossen. Kinder bekommen von mir nie Geld und ich kaufe auch nie einem Kind etwas ab. Ich bin gegen Kinderarbeit und will dies nicht annähernd unterstützen. Viele Touristen geben als Alternative manchmal Kugelschreiber, kleine Spielsachen oder Süßigkeiten. Ich halte davon ehrlich gesagt nichts. Die Kinder haben außer Karies meistens nichts davon. Da spendet man lieber einer vertrauenswürdigen Organisation vor Ort etwas.
Als unser Sohn noch klein war und ich immer etwas zu essen bei mir hatte, gab ich manchmal Biskuits oder Früchte. Doch aufgepasst! Kauft ihr ein Päckchen Biskuits oder Snacks, solltet ihr die Packung immer öffnen, ansonsten bringen es die schlauen Kinder umgehend wieder in den Laden zurück. Dabei werden sie meistens noch um die Hälfte des Preises geprellt. Das Gleiche gilt auch bei Kleidung. Eine Touristin, die ich getroffen habe, meinte es besonders gut und kaufte einem Mädchen ein neues Kleid. Als sie eine halbe Stunde später wieder vorbeiging, trug es wieder seine alten Klamotten, und das Kleid hing wieder im Laden.
Alte und behinderte Menschen
Ist man in Indien im Alter alleine, dann ist das Leben sehr schwer und hart. Als Altersvorsorge gelten hier immer noch die Kinder, d. h. vor allem die Söhne. Sie haben die Pflicht zu den Eltern zu schauen und sie zu versorgen.
Auch für verwitwete Frauen ist es schwierig, ohne Ehemann verlieren die Frauen oft an Wert und Respekt. Manche werden von den Familien verstoßen und müssen selber schauen, wie sie über die Runden kommen.
Körperlich und geistig behinderte Menschen haben in Indien kaum Chancen. Geistig behinderte Menschen sieht man im Alltag kaum, die werden lieber zu Hause versteckt oder in Heime abgeschoben, da es für die Eltern eine große Schande ist. Möglichkeiten einer Arbeit nachzukommen, gibt es für sie kaum.
Wenn ich Kleingeld bei mir habe, dann gebe ich alten oder behinderten Menschen einen 5er oder einen 10er. Warten sie in Gruppen, beispielsweise bei einem Tempel und ich habe nicht genügend Kleingeld, dann gebe ich gut ersichtlich, sodass alle es sehen können, einen größeren Schein an einen Bettler mit der Bitte diesen zu teilen.
Hijras, Transsexuelle
Hijras werden von ihren Familien meistens verstoßen. Sie leben in organisierten Gruppen mit Ihresgleichen zusammen. Geld verdienen sie vorwiegend mit Prostitution und betteln. Die Menschen fürchten sich vor ihren zornigen Flüchen, wenn sie kein Geld bekommen. Oft fragen sie in Restaurants oder Geschäften um Almosen. Wenn die Verantwortlichen nichts geben, werden sie ganz schön ungehobelt und beginnen mit ihren Verfluchungen. Im Norden erscheinen sie auch ungebeten zu Hochzeiten.
Wenn die Hijras mit ihren Verwünschungen beginnen, kann dies sehr angsteinflößend wirken. Mein Mann hat schon einige solche Situationen entschärft und sich für die Transsexuellen eingesetzt. Durch ihn sind mir die Hijras ans Herz gewachsen. Viele Male haben sie unseren Sohn gesegnet, denn dies soll Glück bringen. Für Hijras öffne ich mein Portemonnaie immer und gebe je nach Größe der Gruppe einen 50er oder sogar einen 100er, sodass jeder rund einen 10er bekommt.
Mütter mit Babys und jüngere Menschen
Da ich davon ausgehe, dass jüngere Menschen durchaus einer Arbeit nachgehen könnten, unterstütze ich diese Bettler nie. Auch Mütter mit Babys, auch wenn das Kleine noch so süß ist, erhalten von mir in der Regel nichts, mit Sicherheit kein Geld. Als ich neulich grade aus dem Laden trat und angebettelt wurde, gab ich dem Kleinen eine Banane. Doch die Mutter und auch das Kind waren nicht sonderlich erfreut darüber.
Ein alter Trick, der im Bezug auf Babies immer noch zu funktionieren scheint, ist der arme Mann oder Frau, die kein Geld möchten, sondern nur Milch für ihr Baby. Dass man da gerne helfen möchte, ist klar. Man wird in den Supermarkt geführt und rechnet damit einen 1/2 Liter Vollmilch für 25 Rupees zu kaufen und staunt dann nicht schlecht. Ein Packung Nestle Babymilchpulver mit einem Preis von über 500 Rupees soll es sein, denn Kuhmilch verträgt das Kleine nicht. Wer bezahlt, unterstützt jedoch nur einen geschickten Betrüger, sondern auch den Ladenbesitzer. Die Nestle-Packung wird nämlich wieder ins Regal gestellt.
Sadhus, Bettelmönche
Mit den Sadhus ist das so eine Sache. Meistens bin ich ihnen wohlgesonnen und früher habe ich einen 10er-Schein gerne auch mit einem Foto verbunden. Dafür haben die Bettelmönche immer gerne posiert. In Rishikesh jedoch gingen sie mir dermaßen auf die Nerven, dass ich gar nichts mehr gegeben habe.
Mit weisser Hautfarbe steht man bei Bettlern hoch im Kurs. Viele haben die Erfahrung gemacht, dass Weiße besonders spendierfreudig sind und oft auch größere Batzen austeilen. Ein 5er oder ein 10er sind genug, mehr sollte man nicht geben. Habe ich kein Kleingeld dabei, ist die Situation klar: Es gibt nichts! Auch aufdringliche Bettler gehen leer aus. Wer mir zu nahe kommt oder sogar an meinen Kleidern zupft, bekommt NICHTS.
Bettler in Indien spüren die Verunsicherung, die sie bei uns auslösen, es steht in unseren Gesichtern geschrieben. Viele sind aus diesem Grund auch sehr hartnäckig, aufdringlich, sodass man sie kaum wieder loswird. Wenn man sich für ein Nein entschieden hat, sollte man unbedingt an diesem festhalten, auch wenn es sehr mühsam ist. Gibt man Bettlern nach langem Nein-Sagen, dann doch etwas, lernen sie nur das eine: Wenn ich lange genug dranbleibe, erreiche ich mein Ziel. So sind die Touristen eigentlich mitverantwortlich an dem oft unangenehmen, aufdringlichen Gebaren der Bettler, das immer mehr überhandnimmt.
Steht deine erste Indienreise bevor? Dann ist vielleicht dieser Artikel hilfreich für dich.
13 Antworten
Ach Irène, dein Artikel berührt mich so sehr. Man glaubt oft, gutes zu tun und letztendlich landet das
Geld bei Mafiosi! Sehr traurig , vieles in dieser Welt !
Ja, leider ist das so.
Sehr eindrucksvoll!
Ein deprimierendes Thema, aber ich teile deine Meinung
Hier in Berlin gibt es auch viele Bettler, wobei die „ausländischen“ Bürger unter ihnen sehr penetrant sein können.
Ich hatte vor Jahren mal ein Erlebnis:
Es klingelte an meiner Tür und als ich öffnete stand eine junge Frau mit Kleinkind (keine Deutsche) vor mir. Sie wollte Geld für das hungernde Kind. Als ich ihr sagte, dass ich kein Geld im Hause habe, dem Kind aber gerne etwas zu essen geben kann, wurde sie ziemlich wütend und zog laut schimpfend davon…
LG
Jacky
Ja, Bettler gibt es überall. Oft scheinbar auch in Europa in Gruppen organisiert. Als ich das letzte Mal in der Schweiz auf Urlaub war, wurde ich öfters um Geld gefragt. Eine alte Frau, Schweizerin, hat mich auch um Geld gefragt. Ihre Rente würde nicht reichen und sie hätte kein Geld mehr, um sich etwas zum Essen zu kaufen. Das fand ich, aus Indien kommend, schon sehr erschreckend. Da ich keine Zeit hatte, mit ihr etwas kaufen zu gehen, habe ich ihr 5 Franken in die Hand gedrückt.
Oh, ich kann so viele deiner Erfahrungen nachvollziehen und teilen!! Am frustrierendsten ist es doch wenn man den Bettlern Essen kauft und sie es ablehnen oder direkt wegschmeißen. Da fühlt man sich auf gut deutsch gesagt echt verarscht!
Ich bin noch oft sehr sehr vorsichtig Männern prinzipiell was zu geben, weil sie es tatsächlich auch meist nur für Alkohol ausgeben.
Den Hijras begegne ich eigentlich nur beim Zugfahren und bin immer noch oft sehr eingeschüchtert, vor allem wenn sie die Männer so belästigen.
Bei Kindern frage ich sie immer wo ihre Eltern sind und schaue dann (vor allem am Bahnhof) sie zu Child Line mitzunehmen. Ihre Reaktion ist dann meistens eindeutig: nein, nein ich habe eine Unterkunft oder bereits so verstört zu sein, dass sie mitgehen. Ich glaube, das kommt aber durch meine Arbeit auch, dass ich immer an Child Line denke.
Es ist und bleibt ein komplexes Thema, dem man sich nur mit dem Herzen hingeben kann.
Liebe Grüße!
Danke für die Tipps, es ist ein ganz eigener Klang, wenn Finger-Nägel ans geschlossene Fenster klopfen.
Ja, das stimmt! Wobei ich bei meinem letzten Besuch in der CH nur gestaunt habe, wie oft ich angebettelt wurde.
Wie oft bist du so in der Schweiz?? 1-2 mal im Jahr?
Ich war vor zwei Jahren das letzte mal in der CH. Wahrscheinlich wieder nächstes Jahr.
Oh, das ist wirklich selten.