Aus Erfahrung lernt man.
So bemühte ich mich letzte Woche, den gleichen Fehler nicht zu wiederholen und plante genügend Zeit ein. Wohlweislich ließ ich meinen Liebsten zu Hause, denn auf solchen Missionen wird er immer griesgrämig, oder sogar unausstehlich.
Tatsächlich war ich schon um 15.15 Uhr vor der verschlossenen Tür am warten, obwohl die Praxis erst um 16 Uhr öffnete. Mein Plan, Nummer 1 zu sein, ging zwar nicht gänzlich auf, denn vor mir warteten bereits zwei Frauen. Wie ich richtig vermutete, stellte sich nach einem kurzen Smalltalk heraus, dass es Mutter und Tochter waren.
Nur die Tochter wollte ihre Augen untersuchen lassen- yeah, ich war also Nummer 2. Auf dem langen Weg meinen Augenarzt Dr. X. zu sehen, hatte ich also die Silbermedaille ergattert. Das war gut!
Im Dezember war ich Nummer 7 und nach drei Stunden Wartezeit gab ich schließlich auf, ohne den Doktor zu sehen. Ich hatte Termine und musste nach Hause.
In der Augenpraxis von Dr. X. gibt es nämlich keine festen Termine, es herrscht das System „First come, first served.“
Ich war vorbereitet. Die Sonne schien und die Temperaturen lagen etwa bei 35 Grad. Mit meinem Handfächer wedelte ich mir Luft zu. Wie immer, wenn man warten muss, rückte der Minutenzeiger nur im Schneckentempo vorwärts. “Der Arzt scheint schon hier zu sein”, meinte Nummer 1 und zeigte zuversichtlich auf das Auto, das vor der Praxis stand.
Endlich – es war schon nach vier Uhr – öffnete uns die Frau vom Wächter netterweise die Tür. Inzwischen traf Nummer 3, die zukünftige Organisatorin, ein und verschaffte sich sofort Überblick. Ich setzte mich erst mal glücklich unter den Ventilator, denn nach 45 Minuten stehen, weiss man so eine Sitzbank wirklich zu schätzen. Nummer 4, 5 und 6 trudelten ein.
Jetzt hiess es wachsam sein, denn der zweite Platz ist nur sicher, wenn er in der Liste an zweiter Stelle steht und vom administrativen Mitarbeiter fehlte um 4.30 noch jede Spur. Als er etwa 5 Minuten später auftauchte, kam sofort Leben in die Wartenden und alle drängten zum Tresen vor. “Los Irène! Du bist Nummer 2, trägst die unsichtbare Silbermedaille!”, sprach ich mir innerlich zu, um meinen Platz, den ich mir ehr und redlich erwartet hatte, zu verteidigen.
Als die Organisatorin ihre Chance nutzen wollte, um Nummer zwei zu werden, meinte Nummer 1 aber nur ruhig. “She is second!” und zeigte netterweise auf mich. Kampfbereit wäre ich gewesen, aber der Mitarbeiter, der mich inzwischen kannte, schrieb meinen Namen sofort an zweiter Stelle in sein liniertes Buch und fragte mich höflich, wie es mir ginge. Die Sitzplätze füllten sich.
Um 5 Uhr kam der Assistent, der die Erstuntersuchungen mit den Patienten durchführte. Ein kleiner Sehtest wurde durchgeführt und der Augendruck gemessen.
Nach und nach kamen mehr Patienten dazu. Eine Frau mit süßen Zwillingsmädchen, zwei muslimische Frauen, die die Kopftuch bedeckten Köpfe immer wieder zusammensteckten und tuschelten. Eine alte Frau mit einer Gehhilfe in Begleitung ihrer Tochter. Ein Ehepaar, das sich schon von Anfang an über die lange Wartezeit ärgerte. Die Stimmung war okay. Alle waren auf langes Warten eingerichtet und mit Trinkflaschen und mit Snacks gefüllten Dhaba-Dosen auf die Mission Dr. X zu konsultieren vorbereitet.
Um 18.15 – also, nachdem ich bereits drei Stunden gewartet hatte, tauchte Dr. X endlich auf. Im Raum war Erleichterung zu spüren.
Wieder vergingen 20 Minuten und endlich wurde Nummer 1 ins Arztzimmer gebeten.
Was ich persönlich an Dr. X schätze, ist, dass er sich Zeit für seine Patienten nimmt. Aber nicht nur für Ausländerinnen, nein für alle. Eine Konsultation bei ihm dauert durchschnittlich 20-30 Minuten.
Nummer 1 verließ nach 30 Minuten, wie ich erwartet hatte, das Arztzimmer. “Jetzt kommst du dran!”, denke ich und schwinge gedanklich meine unsichtbare Silbermedaille durchs Wartezimmer. Die Organisatorin organisierte mich kurzerhand um, sodass ich näher an der Tür zum Arztzimmer zu sitzen kam.
18.50 wurde ich endlich ins Arztzimmer gebeten. Doch meine Geduld wurde weiter auf die Probe gestellt. Ich saß 20 Minuten allein im Arztzimmer und überlegte schon, was man alles für Unsinn anstellen könnte, wenn man denn wollte.
Da kam Dr. X. Er lächelte mich freundlich an, begrüßte mich und entschuldigte sich für die lange Wartezeit. Er hätte eine Krebspatientin operiert und die OP hätte länger gedauert, als erwartet. Er hätte erst jetzt etwas gegessen. Er untersuchte meine Augen und meinte, dass die Linse, die er mir im November eingesetzt hatte, perfekt sitzen würde. Ich erzählte ihm von meinen Augen, vor allem dem linken, von den schleimigen Fäden, die mich störten. “Oh, das nennt man Mucus-Fishing!” Schleim-Fischen? Ich finde das amüsant und treffend, denn tatsächlich versuche ich, diese Fäden aus meinem Auge zu fischen.
Ich habe trockene Augen und anscheinend eine Entzündung, die durch eine Allergie verursacht wird. Wie immer ließ sich Dr. X Zeit, keine Hektik, obwohl im Wartezimmer sicherlich 15 weitere Patientinnen und Patienten warteten. Mit 3 verschiedenen Augentropfen und einem kühlenden Pad für die Augen verlasse ich schließlich das Arztzimmer. 2600 Rupien bezahle ich für Medikamente, darunter die besten Augentropfen gegen trockene Augen aus Germany mit einer fancy Technologie. Nachdem 4 Stunden und 15 Minuten vergangen waren, verließ ich erleichtert die Praxis.